Eine kleine Erfolgsgeschichte

Hörbuch: das Medium mit hohem Unterhaltungswert

Spätestens seit Harry Potter ist das Hörbuch in aller Munde! Aber auch jenseits von Rufus Beck ist das Medium in den letzten Jahren zu einem überaus erfolgreichen Produkt avanciert. Das Geschäft mit den Tonträgern floriert. Im vergangenen Jahr wuchs der Umsatz bei fast der Hälfte aller Hörbuchverlage um mehr als 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nach Schätzungen gibt es an die 10.000 Titel und ca. 500 Verlage. Und noch kommen Jahr für Jahr etwa 700 neue Produktionen hinzu. Niemals zuvor war das Angebot an Themen und Präsentationsformen so umfangreich und vielfältig!

Klein, aber fein

Einen Haken gibt’s auch in dieser Erfolgsstory! All dies betrifft einen winzigen Teil des gesamten Buchmarktes. Denn nur drei Prozent aller Editionsformen sind Hörbücher. Und dieser Zwerg bringt – Ausnahmen bestätigen die Regel – akustische Meisterwerke hervor. Es gibt Klassiker der Moderne, etwa Senta Bergers Interpretation von Schnitzlers „Fräulein Else“ oder Ulrich Matthes‘ Lesung von Nabokovs „Pnin“, die anzuhören ein Genuss ist. Es gibt spannende Krimis, als Hörspiel, aber auch gelesen, die buchstäblich bis zur letzten Minute fesseln. Und es gibt Originaltöne wie die Reportage über die Fußball -WM 1954 von Herbert Zimmermann, bei denen man sich kugelt vor Lachen oder vor Spannung den Atem anhält. Kurzum: Das Hörbuch ist ein herrliches Medium mit hohem Unterhaltungswert!

„Hören“ ist wesentlich älter als „Lesen“

1954 brachte die Deutsche Grammophon mit der Originalaufnahme von „Faust I“ in der legendären Gustaf Gründgens-Inszenierung das erste deutschsprachige Hörbuch in Form von drei Langspielplatten auf den Markt. Literatur fürs Ohr ist natürlich viel älter, denn bis ins 19. Jahrhundert wurden Texte z. B. Märchen oder die Bibel hauptsächlich mündlich verbreitet. Die Vortragskunst und das Rezitieren wurden hoch geschätzt. Zuhören war ein sinnliches Vergnügen, erst durch die Stimme erwachte der geschriebene Text zu Leben. Manchmal konnte das Erzählen von Geschichten sogar – wie in den nächtlichen, sinnlichen Erzählungen von „Tausendundeine Nacht“ – vor dem Tod retten! Als Thomas Alva Edison 1876 Kinderreime auf seinen Phonographen sprach, waren die technischen Möglichkeiten für das Medium Hörbuch geschaffen. Im Radio, zum ersten Mal wurde 1923 in Berlin gesendet, war das literarische Vorlesen von Anfang an vertreten. Neben der musikalischen Unterhaltung waren bereits 1924 Hörspiele vertreten. Das erste kommerzielle Hörbuch erschien 1952 in den USA. 1957 etablierte die Deutsche Grammophon eine eigenständige Reihe mit dem Namen „Das literarische Archiv“, das noch heute fortgesetzt wird.

Aber erst der Kassettenrecorder in den 60er und dann der Walkman in den 80er Jahren sorgten für die Verbreitung des Mediums. Hörbuch-Pionierarbeit leisteten Erich Schumm und Grete Schulga. Schumm, ein Plastikfabrikant, hatte in den USA Literaturkassetten lieben gelernt. 1978 gründete er den Verlag „schumm sprechende bücher“ und produzierte im eigenen Tonstudio. Nach seinem Tod kaufte Jutta Steinbach 1991 den Verlag. Heute zählt „steinbach sprechende bücher“ zu den bekanntesten und anerkannten Hörbuch-Verlagen. Grete Schulga studierte Slawistik und lernte bei ihrem Aufenthalt in Moskau literarische Kassetten schätzen. Auch in der Sowjetunion war das Medium verbreitet. Nur in Deutschland interessierte sich niemand wirklich dafür. So erstellte sie einen internationalen Katalog über Audiobooks und gründete 1978 den Versandhandel Litraton, 1988 den gleichnamigen Verlag, und 1998 eröffnete sie in Hamburg einen Hörbuch-Laden.

Reiz des (Zu)-Hörens

Grundsätzlich gibt es den auditiven und den visuellen Typ. Wobei Geräusche wie auch Gerüche zum Teil viel stärkere Erinnerungen auslösen als Bilder. Beim Zuhören, so Dr. Katja Bergmann von der „Stiftung Zuhören“, ist man dem Tempo und dem Timbre der Stimme des Sprechers ausgeliefert. Man kann nicht – wie beim Buch – einfach mal umblättern. Ob man eine Stimme mag oder nicht, ist absolut subjektiv und individuell. Und selbstverständlich gibt es auch eine Hörsozialisation! Woher also kommt die Begeisterung? Liegt es wirklich nur daran, dass das Hörbuch sich so gut in den gestressten Tag einbauen lässt, dass es mit Autofahren, Joggen etc. so kompatibel ist. Sicher, ein Buch zu lesen, braucht vollen Einsatz. Aber auch ein Hörbuch braucht – will man etwas davon haben – Konzentration. Auf der letzten Buchmesse startete der Arbeitskreis Hörbuchverlage eine Umfrage bezüglich der Hörgewohnheiten. Das Ergebnis: Im Auto hören 42,9 Prozent, zu Hause 65,8 Prozent, 5,2 Prozent hören beim Joggen und 8,9 Prozent woanders. Vielleicht wendet man sich in seiner Freizeit lieber dem Hören zu, weil die Augen durch die Arbeit am Rechner sowieso schon arg strapaziert sind. Eine Rolle spielen mit Sicherheit auch die Radioprogramme und die allgemeine akustische und visuelle Überflutung. Mit dem Hörbuch bestimmt man selbst das Programm, schließt die Augen und gibt sich einer Geschichte ganz entspannt hin. Eine gewisse Affinität zur Literatur wird der Hörbuchliebhaber ohne Zweifel mitbringen.

Wie gemacht fürs Hörbuch

Man weiß heute, dass das Hörbuch dem Buch nichts wegnimmt. Im Gegenteil vielen eröffnet es durch eine interessante Interpretation erst den Zugang zum Buch. Es gibt einen Bereich – die Lyrik -, wo das Hörbuch für den originären Text eine echte Bereicherung darstellt: Lyrik wird durch brillante Interpreten vielen überhaupt erst zugänglich gemacht. Bestes Beispiel ist das, auch kommerziell sehr erfolgreiche „Rilke Projekt“ vom Komponistenpaar Schönherz & Fleer. Die Zeit scheint für ‚Popularisierung von Hochkultur‘ reif zu sein. Wenn Schauspieler wie Ben Becker, Hannah Schygulla, Barbara Sukowa, Jürgen Prochnow, um nur einige zu nennen, Rilkes Gedichte, musikalisch untermalt, rezitieren, dann erreichen sie auf CD und live – im Herbst startet die Tournee in Dresden – auch Rilke-Nicht-Kenner! Ein weiterer Vorteil von Hörbüchern: Oft schaffen sie es scheinbar mühelos, in attraktiver Form zu informieren und zu bilden. O-Töne, die meist als Bestandteile von Features in Sachhörbüchern eingesetzt werden, sorgen für die Authentizität dieser Werke. Wenn ein Thema wie der Erste Weltkrieg so umfassend – kulturell, technologisch und sozialgeschichtlich – wie beispielsweise auf dem relativ neuen Hörbuch (3 CDs) von Wolfram Wessel präsentiert wird, dann macht Wissen auch wirklich Spaß. Kinder sind übrigens Vorreiter im Audiobuch-Segment. Bereits in den 80er Jahren waren sie begeistert von den Hörkassetten. Kein Wunder: Sie wollen Geschichten hören und lieben es, sich etwas vorlesen zu lassen.

veröffentlicht auf wissen.de, Oktober, 2004