Die Kunst des Sprechens

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Das Hörbuch lebt von der Interpretation

Die Interpretation charakterisiert das Hörbuch. Beim Hörbuch wird sie anders als beim Buch automatisch mitgeliefert. Wie bei der künstlerischen Bearbeitung durch den Dirigenten oder den Schauspieler auf der Bühne steht und fällt eine Lesung durch die Kunst der Interpretation. „Das kann eine große Hilfe sein“, meint Dr. Katja Bergmann von der „Stiftung Zuhören“, „bei Lehrern und Schülern kommen Gedichtinterpretationen häufig gut an.“

Was zeichnet einen guten Sprecher aus?

Leider ist nicht jeder gute Schauspieler auch ein hervorragender Hörbuch-Sprecher. Vielen genügt das Mikrophon alleine nicht, sie brauchen, um Atmosphäre erzeugen zu können, z. B. das Publikum in der öffentlichen Lesung. Es gibt Naturtalente wie Hans Paetsch, den legendären Märchenonkel; er hatte eine echte Erzählerstimme. Nicht nur Kinder lieben seine Märchen. Hören passiert in der Zeit, es ist flüchtig. Ein Grund, weshalb man das in den Medien praktizierte Schnellreden bei einer Hörbuch-Interpretation meiden sollte. Man braucht beim Hören Pausen und Zäsuren, wie sonst soll man den Stoff verarbeiten können? Die Hörbuch-Verlegerin Margrit Osterwold beschreibt gute Sprecher folgendermaßen: „Wenn ich ihnen zuhöre, höre ich mehr als nur das gesprochene Wort. Sie lassen mich Texte neu verstehen, sie legen Schichten frei, die mir beim Selbstlesen verborgen geblieben sind, sie nehmen mich mit auf die Reise ins Innere eines Textes – alles mit ihrer Kunst der Interpretation.“ Nicht jeder Sprecher passt für jeden Roman. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit! Mit Recht betont das Seminar für Rhetorik der Universität Tübingen, das sich mit den rhetorischen Aspekten des Hörbuchs beschäftigt, die Bedeutung der sorgfältigen Wahl des Sprechers. Den Autor selbst ins Studio zu bitten, ist in den meisten Fällen ein Fehler. Nur ganz wenige Autoren sind kongeniale Interpreten ihrer selbst. Thomas Mann, der den Rundfunk früh als Medium entdeckte, beherrschte dies, Peter Rühmkorf und Günter Grass sind aktuelle Beispiele. Auch vom Versuch, manierierte Bedeutsamkeit erzeugen zu wollen, wird abgeraten. Positiv sieht man jedoch eine „für unsere Ohren glaubhafte Diktion“, Literatur kann so gewinnen. Im Übrigen genügt eine virtuose Erzähltechnik allein auch nicht. Erst das Gespür für das, was einen Text unter der Oberfläche auszeichnet, sichert den Genuss des Kunstwerks.

 

 

Wenn das literarische Werk durch die Stimme gewinnt!

Interessanterweise schafft das Hörbuch ein neues Forum für längst nicht mehr gelesene Literatur. Werke der Weltliteratur wie die „Ilias“ von Homer, Ovids „Metamorphosen“, Wolframs „Parzival“ können durch Übertragung in das akustische Medium Hörbuch dem antiquarischen Dasein, das sie fristen, entrinnen. Sie werden von einem neuen Publikum wahrgenommen und rezipiert. Es ist paradox: Fast tote Texte leben durch den Schritt zurück in die archaische, mündliche Form der Verbreitung wieder auf und werden attraktiv. Nicht nur vor diesem Hintergrund klingt das Plädoyer des Tübinger Rhetorik-Professors Gert Ueding für das Hörbuch und die Wiederentdeckung der Hörkultur überzeugend: „Wenn das literarische Werk durch die Stimme gewinnt oder durch die Hörspielbearbeitung überhaupt erst wieder zugänglich gemacht wird, dann ist die Übertragung in ein anderes Medium nur wünschenswert.“

Auszeichnungen, Preise und Empfehlungen

Das Angebot an Hörbuch-Produktionen – ob als Roman, Krimi, Science-fiction, Kindergeschichte oder Kabarett – wird immer umfangreicher und undurchsichtiger. Etwas Licht ins Dunkel bringen Hörbuch-Auszeichnungen und -Preise. Neben der Orientierungshilfe für den Konsumenten, tragen sie auch dazu bei, dem Medium die Anerkennung und Bedeutung zu verleihen.

  • Der Hörspielpreis der Kriegsblinden, gegründet 1950, gilt als der wichtigste Preis seiner Gattung in Deutschland. In diesem Jahr erhielt das Hörspiel „Jacky“ von Elfriede Jelinek, eine Produktion des Bayerischen Rundfunks, den Preis.
  • Seit 1980 zeichnet der Preis der deutschen Schallplattenkritik hervorragende Aufnahmen von Ton- und Bildtonträgern aus. Die Jahrespreise werden von einer Jury aus in deutscher Sprache publizierender Fachleute ermittelt.
  • Mittlerweile eine Institution im weiten Feld des Hörbuchs ist die HR2 Hörbuch-Bestenliste: Seit 1977 trennt der HR in Zusammenarbeit mit dem Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel die Spreu vom Weizen.
  • Seit 2003 wird der Deutsche Hörbuchpreis verliehen. Der Westdeutsche Rundfunk und die Westdeutsche Rundfunkwerbung sind Preisstifter. Der Preis (insgesamt 20.000 Euro) wird im Rahmen des internationalen Literaturfestivals „lit.COLOGNE“ verliehen. In sechs Kategorien werden Produktionen quer durch alle Genres verliehen: „Bestes Hörbuch des Jahres“, „Beste Information“, „Beste Unterhaltung“, „Beste Interpretation“, „Das besondere Hörbuch“ sowie „Bestes Kinder- und Jugendhörbuch“.
  • Hörbuch des Monats. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet seit 1999 jeden Monat eine Produktion aus, die in der sprecherischen Leistung und technischen Realisierung aus dem Gros des Angebots herausragt.
  • Ganz neu, der OSTERWOLD. Die Hamburger Verlegerin Margrit Osterwold, HörbuchHamburg, hat einen Sprecherpreis gestiftet. Mit dem ersten OSTERWOLD wurden Marlen Diekhoff und Charles Brauer geehrt. Osterwold will mit dieser Auszeichnung die Aufmerksamkeit auf die Qualität von Hörbuchproduktionen und vor allem auf die Kunst der Interpretation lenken. Denn: Die „richtige“ Stimme hebt neben der Qualität des Textes das Hörbuch in den Rang eines Kunstwerks.
  • HörKules, der Hörbuchpreis des Buchhandels wird seit 2000 auf Initiative der „Buchwerbung der Neun“ verliehen. Der Publikumspreis basiert auf einer groß angelegten Leserbefragung per Internet und Antwort-Postkarte.
  • FÜNFZEHN-FÜNF Hörbuch-Magazin: Jeden Sonntag um15.05 Uhr gibt es auf Bayern2 meist drei Hörbuch-Besprechungen mit Hintergrundinformationen. In der Sendung wird jeweils eine herausragende Produktion als „Hörbuch der Woche“ empfohlen.

veröffentlicht auf wissen.de, Oktober 2004