Interview mit Birgit Vanderbeke über ihre Erzählung "Geld oder Leben"

Foto © Brice Toul

Mit ihrem unverkennbaren Vanderbeke Sound zählt sie zu den meistgelesenen deutschsprachigen Autorinnen. Seit 1990 hat Birgit Vanderbeke elf Bücher veröffentlicht und etliche Auszeichnungen u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen bekommen. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nähe von Montpellier. Birgit Vanderbeke ist eine Frau mit Ausstrahlung und einer vollen, angenehmen Stimme. Sie weiß genau, wovon sie spricht, ist bestimmt und sehr klar.

Frau Vanderbeke, Ihr neuestes Buch „Geld oder Leben“ liegt auch als Hörbuch und zwar als Autorenlesung im Freiburger Audiobuch Verlag vor. Gibt es bestimmte Gründe, weshalb Sie sich erneut für diese Veröffentlichungsform entschieden haben? Wussten Sie, dass Sie eine gute Stimme zum Vortragen Ihrer Texte haben, dass sie anregend lesen können? Was bei Autorenlesungen ja nicht immer der Fall ist.

Sagen wir mal so: Ich habe als Kind einen Vorlesewettbewerb gewonnen. Ich habe schon immer gerne vorgelesen, auch mir selbst. Ich habe meinem Kind sehr viel vorgelesen, und ich weiß natürlich, dass ich eine gute Stimme habe. Ich schreibe allerdings auch Vorleseprosa. Meine Texte sind ausgesprochen fließende Prosa, sie eignen sich hervorragend zum Vorlesen. Das liegt daran, dass wenn ich schreibe, ich quasi jeden Satz innerlich laut vorlese.

Sehen Sie einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Buch und dem Hörbuch? Kommen sich beide Formen in die Quere oder ergänzen sie sich möglicherweise?

Ich fang jetzt mal von der Seite des Autors an. Ich bin eine Schriftstellerin, aber ich würde mich gerne als Erzählerin verstanden haben. Ich erzähle jemandem etwas und erzählen tut man traditionell mündlich. Meine Texte schreibe ich so, dass man sozusagen die Stimme hindurch hören kann. Ich erzähle etwas mit einer Richtung von hier nach da. Deshalb ist es in meinem Fall eine sehr glückliche Verbindung zwischen meinen Texten und dem Medium Hörbuch. Das ist nicht bei jeder Prosa so, es gibt sperrige Prosa, arhythmische Prosa und Prosa, die sich verweigert, beim andern anzukommen. Meine Prosa ist, weil ich eine Erzählerin bin, extrem geeignet für das Hören.

Ihre Texte sind gemeinhin sehr autobiografisch geprägt!

Das scheint so.

Gut. Es scheint so. Dennoch lassen Sie mich die Frage stellen: Ist eine Lesung, eine Autorenlesung, nicht doch echter, unverstellter, weil der Hörer nicht nur die Gedanken des Autors, sondern auch die Stimme, in diesem Fall die von Frau Vanderbeke hört? Ist eine Autorenlesung, weil die Distanz zwischen Autor und Hörer geringer wird, nicht authentischer?

Interessanterweise ist es so, dass die Hörer bei den Lesungen gar nicht das Gefühl haben, dass sie Autobiografie hören. Sie lassen sich etwas erzählen, allerdings ist meine Präsenz bei Lesungen so, dass ich bei den Leserinnen und Lesern sehr gut ankomme. Ich lese ausgesprochen gerne, etwa 1000 Lesungen habe ich bereits gemacht, und arbeite auch gerne fürs Radio.

Kommen wir zum Inhalt: „Geld oder Leben“ ist ein gewagter Titel, einer der provoziert. Er suggeriert, dass es keine Wahl gibt, dass man sich entscheiden muss, zwischen Leben und Geld haben. Dass die Formel lautet: „Kein Geld ist Leben!“. Das ist eine äußerst radikale Sicht und sicher auch bewusst überzogen.

Ja selbstverständlich. So gesehen wäre das auch vollkommen absurd. Also ich mache Folgendes. Wir alle wissen – nicht nur ich weiß das, auch der Leser weiß das – dass jeder Mensch eine Kombination aus Geld und Leben findet, eine eigene Mischung aus beidem. Es gibt Nischen, in denen geldfrei Leben vorkommt, und es gibt Bereiche, in denen wenig Leben vorkommt. Man muss also beides kombinieren. Was ich aber in diesem Buch mache, ist : Ich versuche beide Wege einfach mal getrennt aufzuzeigen, beide Wege pur darzustellen, was in der Realität natürlich nicht passiert. Als Herstellerin von Fiktion darf ich das aber tun. Ich mache eine Weggabelung, und den einen Weg geht Matz, der Bruder der Erzählerin, und den anderen Weg geht die Erzählerin. Und beide scheitern kläglich. Weil, am Ende kommt raus, der eine verkauft heiße Luft, und das geht nicht unendlich lang, weil man in den 90ern zwar gedacht hat, Geld würde sich wunderbarerweise vermehren, ohne dass man dafür arbeiten muss. Man hat also Geld und Arbeit entkoppelt, das ist aber natürlich zusammen gebrochen, das wissen wir. Die andere sitzt relativ jämmerlich da und glaubt an so entzückende Dinge wie an Kletterpflanzen und Wurstsalat. Was natürlich absurd ist. Also beide Wege werden sehr ironisiert. Und ich habe das deswegen gemacht, weil ich glaube, dass man im Jahr 2003 schon mal die Frage stellen sollte, wo wir stehen, wie die Mischung aussieht.

Aber Sie geben keine Antwort, keinen Rat, keine Empfehlung!

Nein ganz und gar nicht. Es ist – wie ich meine – eine gesellschaftlich sehr wichtige Frage. Und ich möchte diese Frage gestellt haben, aber keine Antwort geben. In meinem Buch erzähle ich mögliche Wege in die aktuelle Ratlosigkeit hinein.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Geld? Mich würde interessieren, ob das Geld, das Sie mit Ihren Büchern verdient haben – und Sie schreiben viel – Sie verändert hat? Daran anschließend gleich noch eine weitere persönliche Frage: Welche Rolle spielt der Erfolg in Ihrem Leben?

Ich schreibe wirklich viel. Und ich tu es gerne, genauso wie ich gerne spreche, wie ich auch gerne höre. Schreiben gehört bei mir zum Leben. Ich quäle mich nicht damit. Zum Thema Geld kann ich nur sagen. Es macht ruhiger. Wenn man nicht weiß, wie man sein Kind ernähren soll, weil man kein Geld hat, wird man unruhig. Aber selbstverständlich bin ich nicht so dumm, dem Geld eine größere bzw. weitergehende Bedeutung beizumessen, ich verlasse mich nicht darauf, bin nicht davon abhängig. Genauso verhält es sich mit dem Erfolg.

Sie schreiben viel und „leicht“, sind eher mit einer George Sand als mit einem Flaubert vergleichbar. 1990 haben Sie mit Ihrer ersten Erzählung „Das Muschelessen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Wie kamen Sie zum Schreiben, haben Sie schon immer geschrieben?

Nein. Ich wollte es, habe es aber nicht getan. Seit ich fünf Jahre alt war, wollte ich Schriftstellerin werden. Ich hatte ein ganz wunderbares Kinderbuch, nämlich Astrid Lindgrens „Wir Kinder aus Bullerbü“. Ich habe mich in die Idee verliebt, wenn ich groß bin, möchte ich verzaubern können. Ich habe dahingehend eine Entwicklung durchgemacht, habe wahnsinnig viel gelesen, aber ich habe nicht geschrieben. Ich habe kein Tagebuch geschrieben, keine Lyrik verfasst. Nach dem Abitur wäre die Idee fast verloren gegangen. Während des Studiums – ich habe auf Wunsch meiner Eltern Jura studiert und später dann Literatur – kam der Wunsch wieder. Aber ich sagte mir, ich sollte vielleicht erst noch etwas leben, bevor ich mit dem Schreiben anfangen sollte. Weil ich das Gefühl hatte, Schreiben ohne etwas erlebt zu haben, ist es nicht. Als mein Sohn dann im Krabbelalter war, habe ich mit dem Schreiben angefangen.

Frau Vanderbeke, in den 180 Minuten, auf den 140 Seiten von „Geld oder Leben“ zeigen Sie uns im Rückblick alle unsere Fehler. Also die Fehler, die in den letzten 50 Jahren von uns und unseren Eltern gemacht wurden. Es mutet manchmal an, als würden Sie mit dem erhobenen Zeigefinger auf die Fehler und Irrtümer, denen wir erlegen sind, zeigen. Die Liste ist lang: der Glaube an die Freiheit, an die Große Liebe, die heile Familie, an den Weltfrieden, den Markenwahn und zuletzt an die Geldvermehrung … Wenn man Sie so erlebt, wirken Sie kein bisschen verbittert, moralisch oder belehrend. Mit Ihrer Erzählerin in „Geld oder Leben“ scheinen Sie auf den ersten Blick wenig gemein zu haben. Trotzdem: In Ihrem Buch erzählen Sie von einer bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklung, in der Geld eine immer größere Rolle spielt. Sehen Sie unsere Zukunft und unsere Vergangenheit mit Humor. Und können Sie darüber noch lachen?

Ja selbstverständlich, wenn nicht, wäre das traurig. Dennoch, es ist doch so: Unsere Gesellschaft befindet sich im Zustand des Wandels und der Krise, des „Verhängnisses“, wie Adorno sagt. Und die Beunruhigung über diese Entwicklung sollte – wie ich meine – artikuliert werden. Alles, was ich versuche zu tun, ist, die richtige Frage zu stellen.

Die Technik, mit der Sie diese „Fehler“ vermitteln, besteht aus Übertreibungen, Ironie und einem naiven, unverdorbenen Blick. Das, was man den Vanderbeke Sound nennt. In „Geld oder Leben“ nimmt dieser naiv-lakonische Stil teilweise komische Züge an. Sie sprechen von „Sprühsahne“, „Kleiner Plastikkarte“, es gibt bei Ihnen keine „Öko“- oder „Bio“-Vorsilbe. Wollen Sie in kabarettistischer Manier aufklären?

Also ich wende immer einen einfachen Trick an. Meine Figuren stelle ich voraussetzungslos dar. Ich zeige sie im Zustand der Unschuld, der Naivität. Das ist ein legitimes Mittel, um meine Geschichten leicht verständlich zu machen. Ich brauche keine gebrochenen, komplizierten Charaktere. Ich lege Wert darauf, dass sich alles „leicht“ erklärt, und ich mag keine medial abgegriffenen Wörter, weil sie für die Literatur wertlos geworden sind.

Ich möchte noch etwas beim Stil, beim Erzählton bleiben. Sie ziehen den Kinderbuchton mit den Wiederholungen, den naiven Blick der Ich-Erzählerin gnadenlos bis zum Ende durch! Warum ist die Erzählerin auch als Studentin, als junge Mutter noch immer so naiv wie das kleine Mädchen?

Mit dem Kinderbuchton sagen Sie etwas Richtiges. Alle meine Frauenfiguren sind Figuren aus Märchen! Wie in den Märchen von Hans Christian Andersen soll durch meine Texte Erkenntnis produziert werden. Übrigens hat fast alle meine Erzählungen mein Sohn gelesen und verstanden.

Mit derselben Konsequenz, mit der Sie die Erzählerin im Zustand der Naivität lassen, weigern Sie sich, die Dinge, die Entwicklungen beim Namen zu nennen? Woher rührt dieses Umschreiben, dieser Sprach-Purismus?

Umschreiben tu ich immer. Mediale Wörter kommen für mich nicht in Betracht. Es ist interessant, wie viele der neuen Begriffe, die jedes Jahr im Fernsehen auftauchen, problemlos gestrichen werden können. Gertrude Stein sagte „rose is a rose is a rose“ und schuf mit dieser bewussten Wortwiederholung einen neuen Prosastil mit fließendem Rhythmus. Es gibt unzählige Wörter, die das, was sie bezeichnen sollen, gar nicht richtig benennen. Beispielsweise müsste es ja doch Arbeitslosigkeitsamt und nicht Arbeitsamt heißen. Ich weigere mich tatsächlich, etwas so Wichtiges wie Leben mit diesen Tricks in Berührung zu bringen.

Gibt es stilistische Vorbilder?

Ja, Stéphane Mallarmé. Es war für mich eine Offenbarung, als ich bei dem Symbolisten las, dass man Sprache riechen können muss, dass sie sinnlich erfassbar sein soll. Mir bereitet es unglaublichen Spaß, die Dinge bewusst so zu nennen, wie man sie erlebt, wie man sie wahrnimmt und nicht, mit den Sprachhülsen, die vorgegeben werden.

Ein zentrales Thema Ihrer neuesten Erzählung ist neben Geld und Lebender Glaube an etwas. Andererseits meint man Ihre Lust an der Demontage von Glaubensinhalten deutlich zu spüren. Es ist nicht ganz eindeutig: Lautet Ihre Botschaft „Man muss an etwas glauben!“? Ohne Glaube kommt man nicht durchs Leben?

Es ist nicht meine Lust an der Demontage, denn die Demontage ist ein Faktum. Ich erzähle nur davon und zeige die Diskrepanz zwischen Glaube und Wirklichkeit auf. Ich biete keine Lösung, sage selbstverständlich auch nicht, woran man glauben soll. Denn ich bin eine Demokratin, und ich schreibe keine Wege vor.

Anders formuliert: Ihre Erzählerin zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Verweigerungshaltung aus. Reicht das als Lebenskonzept?

Nein, wie man sieht, nicht. Sie scheitert ja. Sie verweigert sich, wünscht sich statt Unzulänglichkeiten Zulänglichkeiten. Das kann natürlich nicht funktionieren. Damit sie allerdings nicht ganz so kläglich durchs Leben gehen muss, hat sie ja den Hans bekommen. Trotzdem hat die Erzählerin auch positive Seiten: Sie improvisiert gerne, sie ist unverdorben, nicht konform oder korrupt.

Sie sagen nicht explizit, woran man glauben soll. Woran glauben Sie persönlich?

An das Leben und meine Familie.

Frau Vanderbeke, ich danke Ihnen für das Gespräch.