Interview mit Betül Licht über ihr Debüt "In meiner Not rief ich die Eule"

Foto © Christiane Gut

Betül Licht kam selbst als Zehnjährige nach Deutschland. Heute berät sie Migranten in einem sozialpsychiatrischen Beratungszentrum in Hamburg. In ihrem 2008 erschienenen Buch „In meiner Not rief ich die Eule“ schildert Fatma die Geschichte einer türkischen Gastarbeiter-Familie in Deutschland. Es zeigt, wie viele Kinder aus der zweiten Generation elternlos aufgewachsen sind. Es zeigt vor allen, dass familiäre Gewalt und Missbrauch zentrale Themen sind.

Frau Licht, Ihr erstes Buch mit dem Titel „In meiner Not rief ich die Eule“ wird als Migrantenliteratur bezeichnet. Warum, können Sie das etwas näher erläutern? Was ist Migrantenliteratur und was sind für Sie Migranten?

Ich arbeite seit acht Jahren in einer Beratungsstelle der Stadt Hamburg, wo Migranten der zweiten Generation betreut werden. Die zweite Generation unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass diese erste Generation nach Deutschland gekommen ist, mit der Absicht, fünf Jahre hier zu bleiben. Sie wollten Geld verdienen und dann wieder in die Türkei zurückkehren. Sie haben ein Ziel gehabt, weil sie in der Türkei wieder etwas aufbauen wollen. Nun kommen die Kinder, sie wachsen hier auf und heiraten.

Und haben die auch ein Ziel?

Nein. Weil die Eltern immer arbeiten mussten, wurden die Kinder zum Teil ständig hin- und hergeschoben: von Deutschland zu den Verwandten in der Türkei. So ist keine echte Bindung entstanden …

Haben diese Kinder in der Türkei überhaupt Kontakt mit Gleichaltrigen gehabt? Sie waren ja meistens bei der Großmutter oder bei Tanten.

Ein Beispiel von vielen: Eine Frau kam zu mir, die ihre Mutter sechs Jahre nicht gesehen hatte, sie dachte, ihre Großmutter sei die Mutter. Nach sechs Jahren holte die Mutter ihre Tochter zurück, und die Tochter denkt, es sei die Tante.

Sechs Jahre? Unvorstellbar. Das sind ja Narben, die nie mehr verheilen können.

Ja, deshalb ist die zweite Generation auch diejenige, die mir viel mehr Sorgen macht. Sie ist nämlich elternlos aufgewachsen. Ich empfinde das zum Teil sogar als Verwahrlosung.

Diese Romanfigur, die Fatma, ist ja auch aus der zweiten Generation oder?

Richtig. Diese Generation ist vor allem mit ihrer Zerrissenheit beschäftig. Die Frauen befinden sich zwischen der Türkei und Deutschland. Fragen, wie wo gehöre ich hin bestimmen ihr Leben. Also diese Haltung in sich, diese Sicherheit, dieses Selbstwertgefühl ist nicht richtig aufgebaut. Wir haben in unserer Beratungsstelle sehr viel mit Depressionen, mit psychosomatischen Erkrankungen zu tun. Das rührt daher.

 Ja, klar. Ich denke, es ist auch einfacher, wenn ich aus so handfesten Gründen wie „Ich muss, ich will Geld verdienen“ im Ausland bin und mich von vorneherein immer abgrenze, weil ich sowieso sage, ich gehöre da nicht dazu, ich bin hier nur aus einem ganz bestimmten Grund, dann kann ich psychisch nicht so angeschlagen werden wie, wenn ich quasi in so einem Vakuum bin und nicht weiß, wo ich eigentlich hingehöre. Das ist wesentlich belastender. Aber noch eine Frage zu der türkischen Beratungsstelle. Die aggressiven Jugendlichen, also die Kinder der zweiten Generation, die kommen zu Ihnen nicht?

Nee, bei uns geht es erst ab 18 Jahren los. Für Jugendliche, auch mit Suchtproblemen gibt es eigene Beratungsstellen in Hamburg.

Aber die Mütter, die kommen, sind die vielleicht tablettensüchtig?

Nee, aber die kommen, weil ihre Kinder süchtig sind. Die schicke ich dann weiter, weil wir dafür nicht ausgestattet sind.

Ich möchte jetzt mal zurück zu Ihrem Buch kommen. Es ist ja eine Premiere, also ihr erstes Buch. Wie kamen Sie dazu, es zu schreiben? Haben Sie schon lange geplant, ein Buch über diese Thematik zu schreiben? Lag das Konzept vielleicht schon lange in der Schublade oder hat es möglicherweise einen konkreten Auslöser gegeben, und Sie haben das Buch dann ganz schnell runtergeschrieben.

Der Auslöser ist meine tägliche Arbeit mit den Menschen der ersten und zweiten Generation. Eines Tages dachte ich, dass muss zur Sprache gebracht werden.

Haben Sie gedacht, dass das beschränkt ist auf die Erfahrungen, die die Türkinnen aus der zweiten Generation gemacht haben?

Ich denke, die Fatma hat ja immer sehr viel arbeiten müssen. Es gibt aber einen Punkt, den ich nicht so ganz verstehe: Warum hat die Großmutter das Mädchen geschlagen, misshandelt, und warum hat sich das dann sogar noch in Deutschland fortgesetzt?

Man hat in der Türkei ein anderes Verhältnis zum Schlagen?

Heißt das, man schlägt Kinder in der Türkei?

Schlagen gehörte damals dazu. Jetzt ist es nicht mehr ganz so.

Das Schlagen war also so etwas wie ein Kavaliersdelikt? Es wurde in gewisser Weise toleriert …

Also die Grußmutter war sehr überfordert. Von einem Tag auf den anderen hatte sie plötzlich zur ihrer eigenen Tochter noch drei Kinder dazu. Sie musste sich um die Kinder kümmern …

Ja gut, das ist mit Sicherheit sehr anstrengend, sehr belastend. Das ist vielleicht eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. Ist in Ihrer Beratungsstelle auch Missbrauch ein Thema? Oder wird das von der türkischen Gesellschaft komplett verschwiegen?

Ach, das wird überhaupt nicht thematisiert. Ich habe ganz viele Frauen aus der zweiten Generation, die damit zu mir kommen. Es ist zum Beispiel so, dass ein Mädchen, als es in Ferien in der Türkei ist, vom Onkel missbraucht wird. Sie versucht, es zu erzählen, aber die Mutter glaubt ihr nicht.

Ja, nun das geht ja gar nicht. Die Frage ist ja auch: Ist ein Mädchen als kleines Mädchen missbraucht worden oder dann schon in der Pubertät.

Sie war 12 Jahre.

Ich kenne eine Studie, die Folgendes besagt. Wenn ein Mädchen als kleines Mädchen oder eben als sich bereits in der Pubertät befindendes Mädchen missbraucht wurde. Für die Zukunft – so sagt die Studie – macht das einen großen Unterschied. Erstaunlicherweise ist es so: Wenn es als ganz kleines Mädchen passiert ist – und das klingt jetzt sehr heikel – und in Anführungsstrichen keine Gewalt angewendet wurde, also keine körperliche Gewalt angewendet wurde , diese Mädchen haben später erstaunlicherweise äußerst wenig sexuelle Probleme, weil die das als natürlich, als normal empfunden haben. Während Mädchen, die in der Pubertät vom Onkel, Vater etc. missbraucht werden eher dieses klassische Verhalten oder das, was man für typisch hält, zeigen, nämlich einen problematischen Umgang mit der Sexualität.

Das ist eine deutsche Studie?

Ja.

Aber die türkischen Mädchen müssen ja um jeden Preis ihre Ehre und Reinheit für den Mann aufheben, den Sie heiraten werden.

Stimmt, das ist natürlich ein entscheidender kultureller Unterschied, ein erschwerendes Moment.

Ja und es ist ja so, dass die Erwachsenen, die das Mädchen um jeden Preis schützen sollten, ihm nicht glauben. Es ist auch so, dass diese Vorfälle auf dem Land wesentlich häufiger sind …

Ach in der Stadt passiert das nicht so häufig?
Meine nächste Frage betrifft dieses Körperliche. In dem Buch wird eine sehr körpernahe Ausdrucksweise angesprochen beispielsweise, als der Tod des Vaters beschrieben wird. Im Buch liest man: „Der seelische Zustand eines inneren Zustands ist die körpernahe Ausdrucksweise.“ Ist das denn typisch für die Türkei, diese körpernahe Ausdrucksweise? In Deutschland oder in westlichen Ländern ist diese Ausdrucksweise nicht so ausgeprägt oder zumindest wird sie nicht so gesehen, so wahrgenommen. Das heißt, dass wenn jemand krank ist, wenn jemand Probleme hat, dass das so deutlich, so intensiv über den Körper ausgedrückt wird, dass die Ärzte aber zum Beispiel – wie im Buch – keinen Befund haben.

Ja das ist ganz typisch. Zu uns kommen Frauen, die Schmerzen haben, und die Ärzte sagen, das ist alles nervlich bedingt, sie schreien nach körperlicher Bestätigung, damit sie sagen können, ich habe etwas.

Ja, ich verstehe. Es ist immer „schöner“, sagen zur können, ich habe Beinschmerzen, ich habe Bauchschmerzen …

Genau, wenn jemand, um jetzt bei diesem Missbrauchsthema zu bleiben, wenn eine Frau kommt und sagt, ich habe ständig Kopfschmerzen und diese Gefühle …

Wenn quasi durch Ihr Arbeiten mit diesen Frauen rauskommt, was dahintersteht, nämlich der Missbrauch, ist das für diese Frauen gerade aus der zweiten Generation ein richtiger Schock? Oder sind die schon leicht darauf vorbereitet?

Also ich erlebe das so, dass das meistens ganz lange dauert, bis die Frauen überhaupt in unsere Beratungsstelle kommen. Dann beginnt die eigentliche ganz sensible Arbeit

Die Frauen sind aber dann doch, wenn ich das richtig verstehe, jenseits der 35, wenn sie mit diesem Anliegen zu Ihnen kommen oder?

Ja, sie brauchen ganz lange, bis sie darüber sprechen können. Da ist immer ein gewisser Selbstschutz und dann Scham dabei.

Stichwort Scham! Scham ist ja sowieso ein Gefühl, ein Erleben, mit dem man ganz, ganz schwer umgehen kann. Mit Schuld, die man sich eingesteht, damit kann man einigermaßen klarkommen, aber ich glaube, mit Scham umgehen zu können, das bedarf schon sehr, sehr viel Stärke. Und gerade für eine türkische Frau – das sehe ich jetzt schon ganz deutlich – ist das natürlich doppelt schwer, weil sie ja so sehr auf diese Ehre getrimmt ist.

Ja, das ist absolut richtig.

Frau Licht, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Interview.