Interview mit Gaëlle Guernalec-Levy über "Eine Nacht im Frühling am Meer"

Gaëllle Guernalec-Levy, © Francesa Mantovani / Stock

„Eine Nacht im Frühling am Meer“ ist der Debütroman von Gaëlle Guernalec-Levy. Claire, die Protagonistin, erzählt in der Ich-Form von ihrem ersten Geliebten bzw. Fast-Geliebten D., den sie nicht vergessen kann. Die sinnliche Erinnerung an ihn wird immer stärker und entwickelt sich schließlich zu einer Obsession. Sie, eine verheiratete Frau und in sexuellen Dingen erfahren, erzählt sehr offen, sehr präzise von ihren Treffen mit D. – von den aktuellen und von denen als sie 16 war. Bemerkenswert sinnlich und authentisch beschreibt die Autorin eine „Heldin, die ihr Verlangen, ihre Begierde uneingeschränkt akzeptiert“.

Gaëlle Guernalec-Levy ist Journalistin und arbeitet für eine Zeitschrift für Eltern. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Paris.

Die ungekürzte Lesung mit Nadja Schulz-Berlinghoff ist vor kurzem im Verlag steinbach sprechende bücher erschienen. Das Buch kam im Herbst 2008 im Aufbau Verlag heraus.

Ihr Roman „L’amant inachevé“ („Eine Nacht im Frühling am Meer“) klingt wie ein Plädoyer für Sex und Sinnlichkeit. Sie schreiben, dass Ihre Protagonistin zu sich selbst findet, dass sie einen Zustand glückseliger Schwerelosigkeit erreicht hatte etc. Ist guter Sex so etwas wie ein Lebenselixier, ein Allheilmittel? Ist es das Wichtigste im Leben?

Ich möchte nicht allzu sehr generalisieren, aber ich glaube, dass Sex – oder wie Sie sagen Sinnlichkeit – das Leben angenehmer macht. Sex ist eine Möglichkeit, um mit einem anderen in Kontakt zu kommen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Paar ohne guten Sex glücklich sein kann. Jeder kann das sehen. Sobald eine Phase der Abstinenz zu lange dauert, gibt es im Allgemeinen Spannungen.

Ein wesentlicher Pfeiler Ihres Romans sind Ihre eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die Sie nach langer Zeit wiederentdeckt haben. Was hat Sie veranlasst, die Geschichte weiterzuspinnen?

Als ich meine Aufzeichnungen wieder gelesen habe, habe ich das, was ich in dieser Zeit empfunden habe, auf eine sehr präzise Art und Weise erneut erlebt und gefühlt. Und ich dachte mir, dass diese Texte möglicherweise eine Bedeutung haben könnten, die über die persönliche Dimension hinausgehen. 


Claire, die Ich-Erzählerin, beschreibt im Rückblick sehr direkt, offen, ganz leicht ihre Begegnungen mit D. – ihrem ersten Liebhaber bzw. Fast-Liebhaber (denn es kam nie zur Vollendung). Die Erinnerung an ihn wird immer stärker, er ist in all ihrem Tun und Handeln präsent, schließlich kommt es zur Obsession. Geht es nicht auch um die Darstellung von Intensität und Leidenschaft, die sich in dem Jugendfreund fokussiert, um eine Flucht aus dem Alltag, die Jagd nach intensivem Leben?

Ja, natürlich, in dieser Figur des D. werden viele Aspekte gebündelt, die über ihn hinausgehen. Er repräsentiert Leidenschaft, Gefahr, Verzicht, Verlust des eigenen Ich. Alles, was man verliert, wenn man sich im Leben einrichtet, wenn man heiratet, Kinder hat und arbeitet. Wie viele Frauen ist Claire zerrissen zwischen ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, einen gewissen sozialen Status zu erreichen, in der Mutterrolle aufzublühen und dem Wunsch, alles hinzuwerfen, von einem Tag auf den anderen zu leben und die Sorglosigkeit, die man mit 16 Jahren hatte, wiederzufinden. Jede Mutter empfindet das eines schönen Tages. Sie träumen von einem Ort, wo sie keine Betten machen, Hausaufgaben überwachen, kochen müssen. Sie träumen von Schauspielern oder einem Arbeitskollegen. Ich habe in meinem Roman meine Heldin autorisiert, dieses Ausbrechen, diese entzückende Abschweifung zu leben, ohne dabei ihre Beziehung in Gefahr zu bringen. Ich wollte nicht über die Krise eines Paares schreiben, sondern ganz im Gegenteil über einen erlaubten Ausflug auf der Basis der Stabilität und des Vertrauens in dieser Beziehung.    

„Einen magischen Ausnahmezustand zu inszenieren“ ist Ihr Anliegen gewesen, schreiben Sie im Nachwort. Und dafür brauchten Sie „eine Heldin, die ihre Lust, ihr Begehren annimmt.“ Glauben Sie, dass es für eine Frau heute noch ungewöhnlich ist, sich ganz und gar der Wollust, Begierde hinzugeben?

Ich denke, dass meistens die Gelegenheit fehlt. Im Grunde ist das Problem – das gilt für Frauen genauso wie für Männer –, nicht sich zu autorisieren oder nicht, all diese Begierden zu stillen. Ich glaube, dass das Problem in unseren Gesellschaften (westlich orientierten) vor allem in einer Abwesenheit von Sehnsucht und Begierde liegt.

Vielleicht liegt es daran, dass man heute fast alles erreichen kann, dass man heute viel freier als früher ist.

Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Beziehungen zwischen Frauen und Männern ja durch die Frustration, entstanden aus Verboten und Konventionen, bestimmt. Heute ist alles oder fast alles erlaubt. Sexualität ist überall präsent: in den Medien, in der Literatur und im Fernsehen. Dennoch glaube ich, dass das sexuelle Glück nicht allzu sehr verbreitet ist. Wenn Sie Psychiater oder Sexologen befragen, scheint es, als wären Asthenie (Kraftlosigkeit, Schwäche) und das Fehlen von Begehren die Krankheit des 21. Jahrhunderts. Die Frage lautet nicht  „habe ich das Recht, es zu tun?“, sondern „wie stelle ich es an, dass ich Lust dazu habe?“


Vielleicht nimmt diese Lust ja auch in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder zu!

Hier gibt es meiner Meinung nach keine eindeutige Antwort. Welchen Einfluss hat die wirtschaftliche Lage auf die Sexualität? Zwei Hypothesen sind denkbar: Entweder der Missmut der Umgebung erzeugt eine nötige Ausflucht, die Sex sein könnte. Oder diese Schwäche hat einen schlechten Einfluss auf die Stimmung, erzeugt ein Gefühl der Depression und schwächt die Libido. Ich habe Familien in schwierigen Verhältnissen interviewt. Und ich habe mich oft gefragt, welche Rolle das Liebesleben und die Sexualität in ihrem Leben spielen.

Wenn zum Beispiel Arbeitslosigkeit das Leben dominiert?

Anders gesagt, wenn es schwierig ist, den Alltag zu bewältigen, die Miete zu zahlen, sich zu ernähren, ist die Frage nach dem Verlangen dann nicht ein absoluter Luxus? Kann man als Langzeitarbeitsloser Verlangen und Leidenschaft empfinden, kann man sich für seinen Partner verzehren, wenn er selbst lange arbeitslos ist?

Das Bild, das man von sich selbst hat …

Ja, das ist besonders wichtig in einer Beziehung und in der Sexualität. Und finanzielle Schwierigkeiten können es erheblich verändern. Ich glaube also eher, dass die aktuelle Krise mehr negative Auswirkungen auf die Sexualität haben wird. Dennoch, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass Frankreich ein Gegenbeispiel ist. Umfragen zeigen immer wieder, dass unter den Europäern die Franzosen das geringste Vertrauen in die Zukunft haben, sie sind die am meisten Deprimierten, die größten Konsumenten von Antidepressiva. Aber sie sind auch Weltmeister im Kinderzeugen. Kinder und Familie haben bei uns einen großen Stellenwert. Je mehr wir verunsichert sind, desto mehr zeugen und gebären wir! Und um Kinder zu machen, muss man ohne Ausnahme, ein sexuelles Leben haben. Die Frage ist wirklich sehr komplex

Sicher ist allerdings, dass Sex in repressiven Gesellschaften einen besonderen Stellenwert hat. Man fühlt sich in diesen Momenten leben und etwas glücklich.

Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich über Sexualität in Diktaturen geschrieben habe, denn ich habe mir folgende Frage gestellt: „Wie machen die Nordkoreaner Liebe? Hängt über ihrem Bett das Porträt von de Kim Jon II? Und können sie, wenn dem so ist, Liebe machen und dabei Freude empfinden?“ Es hat sich herausgestellt, dass in autoritären Regimes Sexualität entweder als Unterdrückungsmittel benutzt wird – Vergewaltigung ist eine der gängigsten Foltermethoden, die darauf abzielt, ein Individuum psychisch zu zerstören – oder als letzter Ort für einen möglichen Umsturz, z.B. ist das in Kuba der Fall, wo Sinnlichkeit sehr stark ist und als letzter Freiheitsraum gelebt wird. Alle großen Feministinnen haben immer für das Recht der Frauen auf ihren Körper, für das Recht auf ihr Vergnügen gekämpft.

In Ihrem Buch stehen Sätze wie: „Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und kurz davor zu zerspringen.“ Oder „Wo du willst, wie du willst und wann du willst.“ Sehen Sie keine Gefahr darin, sich so bedingungslos aufzugeben?

Nein, entschieden nein. Meiner Ansicht nach ist die Hingabe der Schlüssel für die Sexualität. Und zwar, weil es ziemlich schwierig ist, zu akzeptieren, sich vollständig gehen zu lassen, weil es schwierig ist, Sinneslust zu erreichen. Im Französischen nennt man den Orgasmus „den kleinen Tod“. Ich mag diesen Ausdruck sehr, er trifft die Sache. Man muss, glaube ich, „die Waffen strecken“, sich vollständig auf den anderen verlassen, loslassen, um ein echtes sexuelles Vergnügen empfinden zu können.

Im Roman spielt Claires toleranter Ehemann – Claire ist ja verheiratet, hat zwei Kinder und liebt ihren Mann – eine entscheidende Rolle. Er erleichtert ihr das Ausleben dieser Leidenschaft nach 16 Jahren. Wäre eine heimliche amour fou nicht vielleicht dennoch intensiver?

Ja, vielleicht, aber diese Geschichte wollte ich nicht erzählen. Die Figur des Ehemannes interessierte mich und darüber hinaus wollte ich auch meine Vision von dem Paar beschreiben. Damit man über den Begriff und die Bedeutung von Freiheit und Eifersucht in einer Beziehung nachdenken kann.

Sie haben schon immer gerne über Sex geschrieben, bemerken Sie im Nachwort Ihres Romans. Das merkt man Ihrem Text auch an. Er ist absolut erotisch, sinnlich und ‚sicher’ geschrieben. Man bekommt das Gefühl, als gäbe es nichts Schöneres als Sex. Haben Sie Lieblingsschriftsteller/Innen der erotischen Prosa?

Tatsächlich habe ich wenige erotische Romane gelesen. Ich habe Sade gelesen, einige Texte von Apollinaire, aber wenige zeitgenössische erotische Prosa. Literarisch bin ich mit Sicherheit mehr von Annie Ernaux beeinflusst. Mein Wunsch ist, weitestgehend realistisch (und nicht der Wahrheit verpflichtet) zu schreiben. Ansonsten lese ich mit Begeisterung Krimis, die ja meistens wenig erotisch sind.

Ihre Protagonistin erkennt in Kapitel XVIII, dass sie, nachdem sie sich vor 16 Jahren aus Liebeskummer das Leben nehmen wollte, immer Trost im Sex gesucht hat. Was bedeutet das genau?

Dass Sex, vor allem wegen der Hingabe, die er verlangt, wie ein Antidepressivum wirken kann. Dass man sich im Sex betäuben, sich ablenken kann, dass man ein Schmerzmittel finden kann. Man muss darin vielleicht einen Überlebensinstinkt sehen. Liebe machen, um zu vergessen, dass man leidet, das ist eine Art zu verdeutlichen, dass man trotz allem nicht sterben möchte.

Ich möchte zur kunstvollen Komposition, zum Aufbau des Romans kommen. Es ist am Anfang ein Wechsel aus Rückblick und Beschreibung der aktuellen Situation. Sie spielen mit Realität und Fiktion, mit dem Entwurf des eigenen Lebens, wie es hätte verlaufen können. Ist das Weiterspinnen von Basismaterial auch ein Fluchtmittel aus dem Alltag?

Mit Schreiben kann man auch sein Leben erträumen. Man erfindet Figuren, die das tun, was man selbst nicht tun würde – aus Vernunftgründen, aus Mangel an Zeit, Gelegenheit, Glück und Mut –, die extreme Situationen erleben. Lange Zeit dachte ich, ich schreibe, um nicht zu vergessen. Oder dass ich schreiben würde, damit die Ereignisse in meinem Leben einen Sinn bekommen. Ich hatte den Eindruck, dass solange ich diese Ereignisse nicht niedergeschrieben habe, sie niemals passiert sind. Heute weiß ich, dass das Leben viel zu kurz ist, um alles selbst zu erforschen. Und das Schreiben scheint mir eine gute Lösung, um zehn Leben in einem zu haben.

Zum Schluss noch eine Frage zu Ihrem Buch, das sich mit Frauen beschäftigt, die ihre Schwangerschaft bis zur Geburt leugnen. Auf den ersten Blick ein ganz anderes Thema. Auf den zweiten dann aber doch auch mit ihrem Debütroman verbunden, oder?

Man stellt mir diese Frage oft und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich sie beantworten soll. Im Gymnasium liebte ich Literatur, aber auch Mathematik. Ich schreibe in einem Magazin für Eltern, gleichzeitig liebe ich sehr polemische Gesellschaftsthemen, ich mag vieles, ich liebe die Abwechslung. Über das Thema des Leugnens der Schwangerschaft zu schreiben hat mir erlaubt über etwas zu schreiben, was mich sehr interessierte. Die Doppelwertigkeit der Mutterschaft, ihre dunkle Seite, das kann ich kaum in meiner Redaktion angehen. Nach vier Jahren Beschäftigung mit diesem schwierigen Thema hatte ich das Bedürfnis nach Abwechslung. Eines Tages hoffe ich, einen Krimi veröffentlichen zu können oder auch eine Familiensage. Das Thema ist relativ unwichtig, wenn es nur Lust macht. Ich fürchte nur, dass ich nicht genügend Zeit habe. Ich habe drei Kinder, arbeite vier Tage in der Woche in der Redaktion eines Magazins für Eltern. Schreiben erfordert da wirklich Energie, selbst wenn man sehr motiviert ist und das Schreiben Teil des eigenen Ichs.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.