Interview mit Alban Lefranc über seine drei Kurzromane in dem Buch "Angriffe"

© Faye Formisano

In „Angriffe“ inszeniert Alban Lefranc drei radikale Leben: das des exzentrischen Regisseurs Rainer Werner Fassbinder, des Schriftstellers Bernward Vesper – Sohn eines prominenten Nazi-Dichters und Gefährte von Gudrun Ensslin – und das der Warhol-Muse und des Nachkriegsmodels Nico. Er nähert sich ihnen vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Geschichte und der RAF und entwirft weit mehr als Biographien: Halb dokumentarisch,  halb fiktiv schafft er sprachgewaltige Szenen dieser extremen Lebensentwürfe, die sich als Angriffe gegen die bürgerliche Gesellschaft der 60er, 70er und 80er Jahre verstehen.  Kennzeichnend ist dabei der Mix aus unterschiedlichen  Erzählperspektiven, Zeiten und Stilen, mit denen der Schriftsteller souverän jongliert.

Alban Lefranc wurde 1975 in Caen geboren. Heute lebt er abwechselnd in Paris und Berlin. Er hat vier Romane veröffentlicht und Texte von Peter Weiss übersetzt. Lefranc ist Herausgeber und Chefredakteur der deutsch-französischen Literatur- und Kunstzeitschrift „La mer gelée“, die er 2002 gründete.

Die drei Kurzromane sind 2008 als Buch mit dem Titel „Angriffe“ in dem Münchner Blumenbar Verlag erschienen.

Herr Lefranc Sie haben drei Romane über Deutsche, die eng mit der Zeit der RAF verbunden sind, geschrieben. Wie kommt es, dass ein Franzose diese Thematik wählt?

Ich glaube, gerade weil ich Franzose bin, kann ich mit einer größeren Freiheit über das Thema schreiben. Ich habe sozusagen das Glück des Außenseiters. Hinzu kommt, dass ich ein Nachgeborener bin und somit eine größere Distanz zu dieser Zeit habe, die mir erlaubt, auch freier darüber zu schreiben. Die RAF ist zwar immer im Hintergrund, aber sie ist nicht das Hauptthema des Buches. Sie spielt z. B. bei Nico, im letzten Teil des Buches, eine kleinere Rolle.

Warum spielt denn die RAF bei den anderen beiden Figuren nicht diese Rolle?

Doch, doch, denn ich habe diese ganze Zeit über Fassbinder entdeckt, und zwar über „Deutschland im Herbst“. Und in diesem Film wird nicht über die RAF geredet, sondern es werden die Auswirkungen des deutschen Herbstes (1977) auf Körper gezeigt. Es werden die Effekte auf einen Körper, auf den von Fassbinder, auf seinen Liebhaber oder seine Mutter vorgeführt, und das scheint mir viel wichtiger.

Stichwort Körper. Das spielt in den drei Romanen des Buchs „Angriffe“ eine immense Rolle, vor allem bei Fassbinder, der so unförmig in die Breite geht. Ist die Aussage die, dass der Körper auf gesellschaftliche Missstände reagiert?

Ja. Ganz spannend sind beispielsweise (zugespitzt formuliert) Verbindungen zu beschreiben zwischen einer Handbewegung und einem politischen Kontext. Das ist ja auch eine zentrale These bei Foucault. Körper und Politik sind sehr eng verbunden. Die Haltung des Körpers sagt eben sehr viel über die Erziehung, die Herkunft des Menschen aus.

Wenn über Sie gesprochen wird, fällt sehr häufig der Begriff ‚biographie imaginaire‘, also ein Mix aus Fakten und Fiktion. Aber für eine intensive Beschäftigung mit derart extremen Lebensläufen ist Empathie vonnöten. Auch wenn Sie am Anfang vom Glück der Distanz gesprochen haben. Wie lange haben Sie zum Beispiel für den Fassbinder Roman, für dieses überzeugende Porträt gebraucht?

Ich habe das Buch 2005 geschrieben. Alles in allem habe ich mich etwa ein Jahr intensiv mit dem Thema beschäftigt.

Im dritten Part des Buches – Sie schreiben ja über zwei Männer, über Fassbinder und den Schriftsteller Bernward Vesper – ist die Hauptfigur eine Frau: Nico die Sängerin und das international erfolgreiche deutsche Modell, die Warhol-Muse und das Gesicht von Velvet Underground. Dieser Roman ist erst jetzt im Januar bei Gallimard in Frankreich veröffentlicht worden. Wie sind Sie auf diese Figur gekommen?

Für mich war das eine mögliche Ergänzung zu den beiden anderen Figuren. Allen drei ist gemeinsam, dass sie in den Ruinen des Nationalsozialismus geboren sind und in der muffigen Zeit der fünfziger Jahre groß geworden sind. Alle drei versuchen mit künstlerischen Mitteln, mit Filmen, Texten und mit Musik auf die Zeit zu reagieren.

Aber anders als die RAF – ohne Gewalt.

Anders als die RAF. Ja die RAF ist der Gegenpol, das ist natürlich das Ende der Kunst. Fassbinder hat in einem Interview gesagt: „Ich werfe keine Bombe, ich mache Filme.“ Er hat seine Filme tatsächlich als politische Handlungen verstanden.

Und Nico, man ist immer geneigt, sie als blondes, unbedarftes Mädchen zu sehen.

Ja, Nico wird oft als schöne, dumme Pflanze dargestellt – auf eine sehr sexistische Art, teilweise auch heute noch. Nico stürmt genauso wie die beiden anderen Figuren gegen die Grenzen – im Sinne von Kafka, der Literatur als als Ansturm gegen die Grenze begreift. Es ist äußerst spannend zu sehen, wie sie sich als Frau durchsetzen wollte, und wie sie mit ihrer Schönheit umging, die sie absolut festlegte …

Und die sie bis zu einem gewissen Grad zerstören wollte, damit sie auch anders wahrgenommen wird.

Das ist natürlich alles sehr eng verbunden, denn für mich war über Nico zu schreiben, ein weiteres Mittel um diese Zeit zu ergründen. Was es heißt in den Fünfzigern zu leben. Welche Sexualität gab es in dieser Zeit? Auch wie sie sich gerade in dieser Zeit durchsetzen konnte. Oder was die Erfindung von Rock oder Pop-Musik für die Gesellschaft bedeutete.

Themenwechsel. Lassen Sie uns etwas über Ihren Schreibstil sprechen. Sie haben für jeden Roman einen eigenen, sehr treffenden Ton gewählt. Bei Nico wählen Sie die direkte Anrede und finden damit ein passendes sprachliches Mittel, um diese Geschichte nachzuerzählen. War Ihnen diese Form von Anfang an klar?

Nein, das ist während des Schreibprozesses gekommen. Wie immer, ich hatte keinen Plan. Das Buch entstand während des Schreibens. Dass die drei Figuren mit unterschiedlichen Schreibstilen dargestellt werden, ist unvermeidbar. Die Herangehensweise war natürlich jedes Mal eine andere. Aber es ging immer darum, wie ich sie lebendig machen konnte. Als Mann anstelle einer Frau zu reden, ist ein spezifisches Problem. Deshalb diese permanente Anrede, die mir erlaubt, die mir immer wieder erlaubt, Hypothesen aufzustellen …

Auch deutlich zu machen, dass Sie jemand sind, der eigentlich nicht wissen kann, wie es ist oder war.

Ja das ist wirklich eine Projektionsfläche, wo viele Fragen landen.

Bei Fassbinder ist das schnelle Aneinanderreihen von Impressionen oder was ihm durch den Kopf geht charakteristisch. Was konkret wollten Sie mit diesem sprachlichen Stil ausdrücken?

Ja, es soll das Gehetzte rüberbringen, und ich habe auch versucht, den Größenwahnsinn, der bei ihm vermutlich durch den Konsum von Kokain ausgelöst wurde, rüberzubringen. Er war ein Künstler, der immer mehr wollte. Seine Sucht nach Anerkennung war nicht zu sättigen. Deshalb habe ich es zugespitzt dargestellt und mir vorgestellt, dass er einen Film mit Muhammed Ali drehen will – was natürlich erfunden ist. Die Figur von Ali, die in dem Buch immer wieder auftaucht, verkörpert für mich auch diese Zeit.

Was war für Sie das Besondere an Ali?

Die Art und Weise wie er seinen Körper einsetzt – ich selbst bin Amateurboxer – ist für mich etwas ganz Besonderes. Beispielsweise wie Ali seinen Körper mit selbstmörderischen Absichten im Kampf gegen George Foreman –wie es in meinem Fassbinder-Buch erwähnt wird – einsetzt, das verkörpert wirklich auf einer anderen Ebene ein Künstlerschicksal.

Auch was in dieser Zeit passiert ist!

Ja, der Kampf gegen Forman fand 1974 statt. Der Doku-Film „When we were Kings“ und das Buch von Norman Mailer „The fight“ beschreiben sehr gut den Kontext dieses Kampfes.

Vom Boxer zum Übersetzer. Sie haben Peter Weiss übersetzt, welche Texte?

Im Januar erscheint „L’ombre du corps du cocher“ („Der Schatten des Körpers des Kutschers“), der Text ist Anfang der sechziger Jahre bei Suhrkamp erschienen und wird jetzt zum ersten Mal auf Französisch veröffentlicht. Der erste von mir übersetzte Text ist „Das Duell“. Er ist 1953 auf schwedisch und dann 1972 in deutscher Übersetzung erschienen.

Neben Weiss haben Sie sich auch mit Hölderlin und Heidegger beschäftigt, Sie haben Germanistik studiert und leben ja auch abwechselnd in Berlin und Paris. Darüber hinaus bringen Sie „La mer gelée“ heraus.

Das ist eine deutsch-französische Kultur- und Literaturzeitschrift, die jetzt vor allem als Printausgabe einmal im Jahr erscheint. Unter anderem haben wir auch unveröffentlichte Texte von Elfriede Jelinek veröffentlicht.

Gut, jetzt dürfte klar sein, weshalb Sie in Ihrer Romantrilogie „Angriffe“ drei deutsche Ausnahmekünstler vor dem Hintergrund der RAF porträtiert haben. Könnten Sie sich auch vorstellen, das Porträt eines unbekannten, ganz einfachen Menschen mit großer Begeisterung zu schreiben?

Ja auf jeden Fall. Ich habe diese Bios nicht geschrieben, weil es sich um bekannte Leute handelt, sondern weil man ein paar Fakten über sie hat.

Bei Nico nennen Sie diese Fakten, auf die man die Menschen reduziert, Nägel.

Ja, das gilt aber auch für uns selbst. Permanent in unserem Alltag erleben wir doch, dass wir in der Wahrnehmung unserer selbst im besten Fall ein paar Tatsachen isolieren. Wir wissen, dass die Farbe, der Geruch, der Hintergrund, der Puls, die Stunden, die wir erlebt haben, nicht allein in diesen kleinen isolierten Tatsachen Platz haben. Ja ich könnte mir wirklich sehr gut vorstellen über Unbekannte in Anführungszeichen zu schreiben. Einen großen Einfluss auf mich hat das Buch „Das Leben der kleinen Toten“ von Pierre Michon, das bei Suhrkamp in der Übersetzung von Anne Weber erschienen ist.

Was hat Sie an diesem Buch beeindruckt?

In „Vies minuscules“ beschreibt Pierre Michon winzige Leben mit mythischen Zügen. Für viele französische Schriftsteller hat dieses Anfang der Achtziger erschienene Buch einen ganz großen Einfluss ausgeübt.

Die dritte Figur Ihrer Trilogie ist Bernward Vesper. Wie sind Sie auf ihn gestoßen? Über Andreas Baader?

Ja genau, das Buch hat sich ebenfalls im Prozess des Schreibens stark geändert. Ursprünglich wollte ich über Baader und Ensslin schreiben, was für mich sehr, sehr schwierig war. Ich fand den Ton, die Farbe, den Geruch und auch den Schreibstil nicht. Deshalb habe ich weiter recherchiert und Vesper entdeckt.

Vesper, den Sohn eines prominenten Nazidichters.

Vesper, der mit Gudrun Ensslin einen Sohn hatte, hat für mich diese Zeit am idealsten verkörpert, weil der Übergang,, diese Verbindung zur Nazizeit in dieser Figur sehr stark ist. Für Vesper ist das natürlich sehr erdrückend. Er versucht mit einer wahnsinnigen Energie und mit viel Scheitern, sich aus dieser Sackgasse zu befreien. Zuerst war Vesper für mich ein Umweg, um zu Baader zu finden, und dann ist er die Hauptfigur geworden.

Für dieses Erdrückende haben Sie auch die absolut passende Sprache gefunden. Denn sein Hintergrund ist ja ein ganz anderer als der Fassbinders.

Vesper schafft es nicht, sich von der Vaterfigur zu befreien, und das ist natürlich ein ganz großes Problem.

Zum Schluss noch eine provokative Frage zur RAF, die ja in allen drei Roman präsent ist. Fehlt sie, vielleicht in abgemildeter Form in Deutschland?

Also eine abgemilderte RAF gibt es nicht! Nein, auf keinen Fall. Wie gesagt, es ist überhaupt nicht dokumentarisch, was ich schreibe, sondern zu 4/5 fiktiv. Ich zeige viel mehr die Auswirkungen der RAF auf die Leute. Man kann auf keinen Fall die Haltung der RAF rechtfertigen. Was man allerdings immer wieder in Deutschland, aber auch in Frankreich vergisst, ist, dass in den sechziger Jahren der bewaffnete Kampf Konsens war. Und das darf man nicht vergessen. Es ist ein bisschen zu einfach, heute, 40 Jahre später, auf diese Zeit von der Kanzel herabzuschauen. Zu fragen, wieso haben diese Leute Attentate gemacht. Man darf nicht vergessen, dass es bei Dutschke z.B. einen gewissen Konsens im linken Spektrum für den bewaffneten Kampf gab. Heute hat da einfach ein Paradigmenwechsel stattgefunden, und das ist auch gut so. Man muss für eine angemessene Wahrnehmung unbedingt den Kontext sehen. Das Thema ist so beladen, dass sobald man so was sagt, es als Rechtfertigung verstanden wird. Darum geht es auf gar keinen Fall. Es geht darum, einen historischen Kontext wahrzunehmen.

Anders formuliert: Fehlen Leute, die wieder mal bewusst machen, dass doch einiges im Argen liegt, wenngleich natürlich Fassbinder, Vesper und Nico mit ihrer eigenen Geschichte mindestens zu 50 Prozent beladen waren. Es ging bestimmt nicht nur um eine Mission, darum, deutlich zu machen, was gesellschaftlich im Argen liegt. Sie haben aber gerade selbst erwähnt, dass diese drei Figuren gewissermaßen als Auswirkung auf die RAF entstanden sind. Fehlen solche Leute heute, in Frankreich, in Deutschland?

Künstler meinen Sie? Es gibt viele, das Problem ist, ob sie wahrgenommen werden oder nicht.

Ja, die drei wurden aber wahrgenommen.

Vesper erst nach seinem Tod und Nico auch nicht so sehr.

Fassbinder jedoch wurde anerkannt.

Am Ende seines Lebens und noch zu Lebzeiten. Aber es gibt bei mir überhaupt keine Nostalgie für diese Zeit. Das wäre auch total absurd, denn jede Zeit hat ihre eigene Hemmungen, Stärken und Schwächen. Heute gibt es großartige Künstler.

Und auch radikale Lebensentwürfe, wie zu jeder Zeit.

Ja, wie schon gesagt, die Frage ist, ob man sie wahrnimmt.

Herr Lefranc, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.